Gemeinsame Erklärung zivilgesellschaftlicher Organisationen: Staaten müssen beim Einsatz digitaler Überwachungstechnologien zur Bekämpfung von Pandemien die Menschenrechte achten
Die COVID-19-Pandemie ist ein globaler Gesundheitsnotstand, der eine koordinierte und groß angelegte Reaktion aller Regierungen weltweit erfordert. Die Anstrengungen der Staaten, das Virus einzudämmen, dürfen jedoch nicht in eine neue Ära der invasiven digitalen Überwachung münden.
Wir als unterzeichnende Organisationen fordern die Regierungen nachdrücklich auf, bei der Bekämpfung der Pandemie sicherzustellen, dass der Einsatz digitaler Technologien zur Verfolgung und Überwachung von Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen streng im Einklang mit den Menschenrechten erfolgt.
Technologie kann und soll bei diesen Anstrengungen, Leben zu retten, eine wichtige Rolle spielen, etwa bei der Verbreitung von Nachrichten zu Gesundheitsthemen und bei der Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung. Eine Zunahme von nicht freiwilligen digitalen Überwachungsbefugnissen des Staates, wie beim Zugang zu den Standortdaten von Mobiltelefonen, bedroht jedoch die Privatsphäre, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in einer Weise, die Rechte verletzen und das Vertrauen in die Behörden herabsetzen könnte – und damit die Wirksamkeit jeglicher Maßnahmen im Bereich des Gesundheitswesens untergräbt. Solche Maßnahmen stellen auch ein Risiko der Diskriminierung dar und können bereits marginalisierte Gemeinschaften unverhältnismäßig schaden.
Es sind außergewöhnliche Zeiten, aber die Menschenrechte gelten nach wie vor. Die Struktur der Menschenrechte ist in der Tat so gestaltet, dass die verschiedenen Rechte sorgfältig ausbalanciert werden können, um einzelne Personen und die Gesellschaft insgesamt zu schützen. Dabei können Staaten Rechte wie die Privatsphäre und die Meinungsfreiheit nicht einfach im Rahmen der Bewältigung einer Krise im Bereich des Gesundheitswesens missachten. Vielmehr wird durch einen Schutz der Menschenrechte auch das Gesundheitswesen gestärkt. Mehr denn je müssen die Regierungen jetzt rigoros sicherstellen, dass jegliche Einschränkung dieser Rechte mit den seit langem bestehenden Menschenrechtsstandards in Einklang steht.
Diese Krise bietet eine Gelegenheit, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu demonstrieren. Wir können außerordentliche Anstrengungen zur Bekämpfung dieser Pandemie unternehmen, die mit den Menschenrechtsstandards und der Rechtsstaatlichkeit in Einklang stehen. Die Entscheidungen der Regierungen, um der Pandemie zu begegnen, werden das zukünftige Aussehen der Welt prägen.
Wir rufen alle Regierungen auf, auf die COVID-19-Pandemie nicht mit einer verstärkten digitalen Überwachung zu reagieren, es sei denn, die folgenden Bedingungen sind erfüllt:
- Überwachungsmaßnahmen, die zur Bewältigung der Krise angewandt werden, müssen rechtmäßig, notwendig und verhältnismäßig sein. Sie müssen gesetzlich vorgesehen und durch berechtigte Ziele der öffentlichen Gesundheit, die von den zuständigen Gesundheitsbehörden festgelegt werden, gerechtfertigt sein und in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Bedürfnissen stehen. Die Regierungen müssen die von ihnen ergriffenen Maßnahmen transparent machen, damit sie überprüft und gegebenenfalls später geändert, zurückgezogen oder aufgehoben werden können. Wir dürfen nicht zulassen, dass die COVID-19-Pandemie als Vorwand für eine wahllose Massenüberwachung dient.
- Wenn Regierungen ihre Überwachungs- und Kontrollbefugnisse ausweiten, dann müssen diese Befugnisse zeitlich begrenzt sein und dürfen nur so lange fortbestehen, wie es nötig ist, um die aktuelle Pandemie zu bekämpfen. Wir können nicht zulassen, dass die COVID-19-Pandemie als Vorwand für Überwachung auf unbestimmte Zeit dient.
- Staaten müssen sicherstellen, dass eine verstärkte Sammlung, Speicherung und Aggregation von persönlichen Daten, einschließlich Gesundheitsdaten, nur für die Zwecke der Bewältigung der COVID-19-Pandemie erfolgt. Daten, die zur Bewältigung der Pandemie gesammelt, aufbewahrt und aggregiert werden, müssen in ihrem Umfang begrenzt und zeitlich auf die Pandemie bezogen sein und dürfen nicht für kommerzielle oder andere Zwecke verwendet werden. Wir können nicht zulassen, dass die COVID-19-Pandemie als Vorwand dient, um das Recht des Einzelnen auf Privatsphäre auszuhöhlen.
- Die Regierungen müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die Daten der Menschen zu schützen, einschließlich der Gewährleistung einer ausreichenden Sicherheit aller gesammelten persönlichen Daten und aller Geräte, Anwendungen, Netzwerke oder Dienste, die an der Sammlung, Übertragung, Verarbeitung und Speicherung der Daten beteiligt sind. Alle Behauptungen, dass Daten anonym sind, müssen auf Beweisen beruhen und mit ausreichenden Informationen darüber, wie sie anonymisiert wurden, untermauert werden. Wir können nicht zulassen, dass Versuche, auf diese Pandemie zu reagieren, als Rechtfertigung für die Gefährdung der digitalen Sicherheit der Menschen benutzt werden.
- Jeglicher Einsatz von digitalen Überwachungstechnologien zur Bewältigung von COVID-19, einschließlich Big Data und Systemen der Künstlichen Intelligenz, muss sich mit dem Risiko befassen, dass diese Instrumente die Diskriminierung und andere Rechtsverletzungen gegen Minderheiten, in Armut lebende Menschen und andere marginalisierte Bevölkerungsgruppen erleichtern, deren Bedürfnisse und Lebensrealitäten in großen Datensätzen möglicherweise verdeckt oder falsch dargestellt werden. Wir können nicht zulassen, dass die COVID-19-Pandemie die Kluft in der Wahrnehmung der Menschenrechte zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft weiter vergrößert.
- Wenn Regierungen mit anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung von Daten treffen, müssen diese auf einer Rechtsvorschrift beruhen, und die Existenz dieser Vereinbarungen und die zur Beurteilung ihrer Auswirkungen auf die Privatsphäre und die Menschenrechte erforderlichen Informationen müssen öffentlich bekannt gegeben werden – schriftlich, mit Verfallsklauseln, öffentlicher Aufsicht und anderen Schutzmaßnahmen als Vorgabe. Unternehmen, die an den Anstrengungen der Regierungen zur Bekämpfung von COVID-19 beteiligt sind, müssen mit der erforderlichen Sorgfalt sicherstellen, dass die Menschenrechte respektiert werden und jede Intervention von anderen geschäftlichen und kommerziellen Interessen abgewehrt wird. Wir können nicht zulassen, dass die COVID-19-Pandemie als Vorwand dafür dient, die Menschen im Dunkeln zu lassen, welche Informationen ihre Regierungen sammeln und an Dritte weitergeben.
- Jede Reaktion muss eine Rechenschaftspflicht und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch beinhalten. Verstärkte Überwachung im Zusammenhang mit COVID-19 darf nicht in den Bereich der Sicherheits- oder Geheimdienstbehörden fallen und muss einer wirksamen Aufsicht durch geeignete unabhängige Gremien unterliegen. Darüber hinaus müssen auch Einzelpersonen die Möglichkeit erhalten, von allen Maßnahmen, mit denen Daten im Zusammenhang mit COVID-19 gesammelt, aggregiert, gespeichert oder genutzt werden, zu erfahren und diese anzufechten. Personen, die einer Überwachung unterzogen wurden, müssen Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln haben.
- Reaktionen auf COVID-19, bei denen Daten erhoben werden, sollten Mittel für eine freie, aktive und sinnvolle Beteiligung relevanter Interessengruppen, insbesondere von Experten des Gesundheitswesens und der am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen, vorsehen.
Alle Unterzeichner dieser gemeinsamen Erklärung.